21.
November
2024
Jürg Stahl: «Es war eine unglaubliche Ehre»
Am 22. November 2024 wählt das Sportparlament die Nachfolge von Swiss-Olympic-Präsident Jürg Stahl. Im Interview blickt der abtretende Präsident auf seine achtjährige Amtszeit zurück, die per Ende Dezember endet.
Du bist noch rund einen Monat im Amt, ehe du das Präsidium von Swiss Olympic nach acht Jahren abgibst. Welches waren die schönsten Momente deiner Amtszeit?
Zum Glück durfte ich in den letzten acht Jahren viele schöne Momente erleben. Extrem emotional war für mich der Dreifacherfolg der Schweizer Mountainbikerinnen an den Olympischen Spielen in Tokio 2021. Das Podest mit Jolanda Neff, Sina Frei und Linda Indergand, das ist ein Bild für die Ewigkeit. Grossartig war auch der Schweizer Olympia-Doppelsieg im Skicross der Männer 2022 in Peking mit Ryan Regez vor Alex Fiva! Und als Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der Gastgeber zu sein bei den heimischen Youth Olympic Games 2020 in Lausanne, war ein grosses Privileg.
Gibt es weitere Erinnerungen, die dir bleiben werden?
Die sind so zahlreich, dass es schwierig ist, einzelne herauszupicken. Sehr gerne erinnere ich aber an die unzähligen Begegnungen in der ganzen Bandbreite und auf allen Ebenen, die ich mit Sportlerinnen und Sportlern im Rahmen von internationalen, nationalen Wettkämpfen, Grossanlässen, kleineren Wettbewerben und Special-Olympics-Anlässen machen durfte. Was aber auch bleibt sind die schwierigen und emotional belastenden Momente. Die schlimmen Unfälle von Gino Mäder und Muriel Furrer oder das Telefon vom Baspo-Direktor aus Magglingen, der mich informiert hat, dass Angelica Moser – meine Nichte – nach einem Trainingsunfall per Helikopter ins Spital transportiert wird. Auf eine andere Art hat mich das Nein der Walliser Stimmbevölkerung am 9. Juni 2018 zur Olympiakandidatur belastet. Diese schwierigen Momente prägen sich ebenso ein wie die Glücksmomente. Grossmehrheitlich sind es zum Glück aber die schönen Ereignisse, welche mir gegen Ende meiner Amtszeit präsenter sind. Spezielle Motivation für meine tagtägliche Arbeit schöpfte ich jeweils aus den Besuchen der Delegationen an Youth Olympic Games und Youth Olympic Festivals! Egal, ob in unserem schönen Land oder irgendwo auf dieser Welt: Alle Kontakte und Begegnungen haben mir immer sehr viel gegeben, denn dabei hat sich stets gezeigt, was den Sport ausmacht: Der Sport ist der Ort der Bewegung und Begegnung auf sehr vielen Ebenen.
Was meinst du damit?
Der Sport ist vielleicht der letzte Bereich, auf dessen Wert sich unsere Gesellschaft in dieser Zeit einigen kann. Zwei Millionen Menschen in der Schweiz machen im Sportverein mit und begegnen dort Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlicher Herkunft. Kinder lernen im Sport mit Erfolgen und Misserfolgen umzugehen, sie lernen fürs Leben. Gebannt verfolgen wir die Spiele unserer Nationalteams und debattieren über die Leistungen. Wir fiebern mit Marco Odermatt und Lara Gut-Behrami mit, und alle waren wir von den sportlichen Leistungen und der Vorbildfunktion von Roger Federer beeindruckt. Das ist die grosse Qualität des Sports. Gerade der Sportverein ist und bleibt der Ort, wo selbstorganisiert und eigenverantwortlich Bewegung, Begegnung und Bildung tagtäglich, unspektakulär und unaufgeregt stattfindet – und das auf einem grossen, stabilen und auf Freundschaft aufgebauten Fundament des Ehrenamts!
Wie sieht es in dir drin aus mit Blick auf den bevorstehenden Abschied?
Es war eine unglaubliche Ehre, den Schweizer Sport als Präsident und zuvor bereits acht Jahre als Mitglied des Exekutivrats von Swiss Olympic mitzuprägen - hoffentlich auf eine positive Art und Weise (lacht). Es hat mir immer Freude gemacht, gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Exekutivrat und dem Team auf der Geschäftsstelle von Swiss Olympic Projekte zugunsten der Verbände und der Athletinnen und Athleten zu lancieren und umzusetzen. Aber im Sport steht eines Tages der Rücktritt bevor, und mir war immer bewusst, dass dieser Moment kommt. Irgendwie wäre es aber auch komisch, wenn mein Rücktritt in mir nichts auslösen würde. Wehmut ist es aber nicht. Vielmehr Stolz und Dankbarkeit über das Erreichte. Ich sehe viel Erlebtes und viel Bewegtes im Rückspiegel und klar wird es, wenn es dann soweit ist, mindestens eine Träne geben!
Was bleibt von deiner Amtszeit?
Als ich 2017 Präsident von Swiss Olympic wurde, bestand die grosse Aufgabe von Swiss Olympic darin, mehr Geld in das Schweizer Sportsystem zu bekommen - einerseits vom Bund, andererseits von den Lotterien, über deren Verteilschlüssel wiederum die Kantone – also die Regierungsrätinnen und Regierungsräte –entscheiden. Auf diesem Gebiet haben Direktor Roger Schnegg und ich viel politische Arbeit investiert. Swiss Olympic ist es gelungen, die finanziellen Beiträge an die Mitgliedsverbände sukzessive zu erhöhen, von 35 Millionen Franken im Jahr 2017 auf über 70 Millionen im Jahr 2024. Dafür sind wir den Partnern sehr dankbar, denn mit diesen erhöhten finanziellen Mittel ist es uns gelungen, den Schweizer Sport in vielen Bereichen zu professionalisieren und weiterzuentwickeln. Sei es in der Förderung des Leistungssports, des Breitensports, bei der Inklusion oder im Ethikbereich. Parallel konnten wir unsere Stiftung – Schweizer Sporthilfe – mit der Besetzung einer Co-Leitung stärken und damit gemeinsam und dem grossen Einsatz der Sporthilfe-Spitze die finanzielle Unterstützung der Athletinnen und Athleten verdoppeln. Nicht zu vergessen sind – dank dem partnerschaftlichen Funktionieren mit dem Baspo-Direktor und dem Kommandanten des Kompetenzzentrum Sport der Armee die grossen Fortschritte der Sportförderung in Magglingen und in der Armee!
Was soll neben der Erhöhung der finanziellen Mittel von deiner Amtszeit in Erinnerung bleiben?
Ich denke, Swiss Olympic hat es geschafft, sich als glaubwürdiger Partner gegenüber den Anspruchsgruppen zu etablieren und Vertrauen zu schaffen. Swiss Olympic ist als Dachverband des Schweizer Sports in vielen Bereichen gefragt. Der Wert des Sports für die Gesellschaft wird erkannt. Das ist eine positive Entwicklung. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei allen bedanken, die von der Basis bis zur Spitze zu einem erfolgreichen, vielfältigen und auch ethisch nachhaltigen Schweizer Sport beitragen. Das sind in erster Linie die engagierten Menschen in den Vereinen und den Verbänden. Die Trainerinnen und Trainer und Funktionsträgerinnen und Funktionsträger. Ohne ihr grosses, meist ehrenamtliches Engagement würde der Schweizer Sport stillstehen. Mein Dank gilt auch den Schweizer Sportverbänden, auch sie leisten hervorragende Arbeit. Das zeigen die Erfolge unserer Athletinnen und Athleten aus den unterschiedlichsten Sportarten an Welt- und Europameisterschaften und an Olympischen Spielen. Als ehemaliger Zehnkämpfer liegen meine Stärken in der Vielseitigkeit und dem Durchhaltevermögen; ich bin ein Generalist und versuchte die Voraussetzungen so zu gestalten, dass Spezialisten die Erfolge einfahren konnten.
Mit welchen Herausforderungen warst du besonders konfrontiert?
Einerseits war das der Umgang mit ethischen Missständen im Sport und andererseits die Bewältigung der Corona-Pandemie aus Sicht des Sports.
Im Herbst 2020, mitten in der Pandemie, publizierte «Das Magazin» des Tages-Anzeigers einen Bericht aus Magglingen, der darstellte, wie stark junge Turnerinnen unter den Trainingsmethoden und Umständen im Nationalen Leistungszentrum litten…
… und das hat auch mich erschüttert. Es ist mir wichtig zu betonen: Swiss Olympic war damals schon seit einiger Zeit bestrebt, das Ethiksystem im Sport zu überarbeiten: Der grosse Mut dieser Athletinnen hat jedoch dazu beigetragen, die geplanten Änderungen zu beschleunigen und zu intensivieren.
Wir konnten dann rasch handeln: Nachdem Swiss Olympic umgehend eine provisorische Meldestelle etabliert hatte, nahm die reguläre, unabhängige und zentrale Meldestelle für den gesamten Schweizer Sport von Swiss Sport Integrity Anfang 2022 ihre Tätigkeit auf. Somit ist die Unabhängigkeit garantiert, was für Betroffene ein wichtiger Aspekt ist. Schlussendlich hat der unschöne Auslöser zu einem wichtigen Pfeiler des Schweizer Sports geführt. Heute sind wir im internationalen Vergleich im Bereich «Ethik und Sport» auf einem sehr hohen Niveau.
Wie hast du die Corona-Pandemie erlebt?
Am 23. Januar 2020 – ein Tag nach der Schlussfeier der Youth Olympic Games in Lausanne – wurde die chinesische Stadt Wuhan abgeriegelt; am Freitag 13. März hat der Bundesrat ein strenges Covid-Regime verabschiedet, welches dann am 16. März in Kraft getreten ist. Damals konnten wir kaum abschätzen, was die Konsequenzen sind und wie der Sport diese ungewisse Zeit übersteht. Als am 11. Mai 2020 die ersten Sportinfrastrukturen wieder geöffnet werden konnte, war es noch nicht das Ende der Covid-Krise, aber dieses Datum bleibt bei mir in der Agenda als Jahrestermin drin.
Wie hat der Sport die Pandemie überstanden?
Ich denke, das Sportsystem Schweiz hat glücklicherweise keinen langfristigen Schaden erlitten. Die Mitgliederzahlen in den Vereinen sind stabil, das freut mich. Doch die Zeit war belastend. Die Ungewissheit, ob und wann die Begegnung und die Bewegung zurückkehren und wie die Vereine diese Phase des Lockdowns überstehen, hat mich beschäftigt. Doch wir waren in dieser Phase sehr aktiv. In enger Zusammenarbeit mit dem BASPO und dem Bundesamt für Gesundheit konnte Swiss Olympic dafür sorgen, dass Begegnung und Bewegung – wenn phasenweise auch stark eingeschränkt – stets einen gewissen Raum vorfand. Es war unglaublich wichtig, diese Basis zu erhalten. Dass uns das gelungen ist, macht mich auch ein bisschen stolz.
Nicht gelungen ist es bisher, die Olympischen und Paralympischen Spiele erstmals nach 1948 wieder in die Schweiz zu holen…
Das ist so. 2017/2018 haben wir sehr viel investiert für das Projekt Sion 2026, nun erarbeiten wir die Idee von Winterspielen 2038. Ich bin überzeugt, die Schweiz kann Spiele organisieren, die zu unserem Land passen. Die Herausforderung besteht vor allem darin, alle Beteiligten von diesem Konzept zu überzeugen – die Bevölkerung, die Sportverbände, die Politik usw. Wenn uns das gelingt, werden wir Olympische und Paralympische Spiele in der Schweiz erleben. Und mit der aktuellen Struktur, einem gemeinsam von Swiss Olympic und den Verbänden geführten Verein, der Zusammenarbeit mit dem IOC, sind wir auf einem sehr guten Weg. Danken möchte ich an dieser Stelle meiner Vize-Präsidentin bei Swiss Olympic, Ruth Wipfli Steinegger und Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann, welche in einer Co-Leitung den Verein für Olympische und Paralympische in der Schweiz souverän und zielorientiert führen. Diese Belastungen neben dem Tagesgeschäft von Swiss Olympic auf mehrere Schultern zu verteilen und klare Kompetenzen festzulegen, war für mich ein Glücksfall. Ich werde selbstverständlich die Aktivitäten der Kandidatur eng verfolgen und mitfiebern.
Am 22. November bestimmen die Mitglieder von Swiss Olympic am Sportparlament deine Nachfolge. Wo muss deine Nachfolgerin, dein Nachfolger in deinen Augen die Prioritäten setzen?
Es liegt mir fern, hier Tipps abzugeben. Ich freue mich sehr, stehen mit Ruth Metzler-Arnold und Markus Wolf zwei profilierte Persönlichkeiten zur Auswahl. An ihren Kandidaturen lässt sich der Wert, den Swiss Olympic, den der Sport geniesst, ablesen. Als einzigen Hinweis gebe ich ihnen mit, dem Ehrenamt im Sport immer die Wertschätzung zu geben, den er verdient. Aber ich bin mir sicher, dass dies den beiden mehr als bewusst ist.
Was wird für deine Nachfolgerin, dein Nachfolger sonst wichtig sein?
Interdisziplinarität und das Bekenntnis zu Forschung und Innovation wird in meinen Augen noch mehr an Bedeutung gewinnen. Das ist eine Angelegenheit der Führungsspitzen – bei Swiss Olympic und den Verbänden. In der Schweiz gibt es erfolgreiche Forschende, Universitäten, ETH’s, Bildungssystem, die zu den besten der Welt gehören; erfolgreiche KMUs und Grosskonzerne; Denkerinnen und Macher! Diese in unserem Projekt Schweizer Olympia Park zusammen zu führen und zum Abheben zu bewegen wird ein Meilenstein im Schweizer Sport sein!
Ende Dezember gibst du das Präsidium von Swiss Olympic ab. Welches sind deine Zukunftspläne?
Zunächst einmal gehe ich zurück in oben genanntes Ehrenamt. Seit einigen Wochen engagiere ich mich in der Leichtathletikvereinigung Winterthur als Trainer einer Leichtathletikgruppe. Ich will dazu meine J+S-Anerkennung erneuern und die entsprechenden Kurse besuchen. Ich behalte zudem die Mandate als Stiftungsratspräsident des Schweizerischen Nationalfonds und als Präsident des Schweizerischen Drogistenverbands. Ausserdem freue ich mich auf etwas mehr Zeit für die Familie. Langweilig wird mir sicher nicht. Freundschaften – die zum Teil hinten anstehen mussten – intensiver zu pflegen habe ich mir ebenso vorgenommen, wie mich selber mehr zu bewegen, um die gesammelten «Funktionärskilos» wegzubringen. Fan, Supporter, Begleiter des Schweizer Sports werde ich mit Leidenschaft bleiben. HOPP SCHWIIZ!